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Siemens plant Zentrum für Wasserstofftechnologie Görlitz reloaded - Siemens-Chef Kaeser verspricht neue Perspektive

Erst wollte Siemens den Standort Görlitz schließen. Nach geharnischten Protesten auch eigener Aktionäre besann sich Konzernchef Joe Kaeser eines besseren und versprach vor Ort nun, einen Innovationscampus und ein Zentrum für Wasserstoffforschung zu errichten. Im Grunde ein Ortstermin - aber einer mit Signalwirkung, bei dem Kaeser im Beisein der Kanzlerin nicht ganz ungewollt Wahlkampfhilfe leistet.
Sie geben Görlitz eine Perspektive und fühlen sich sichtlich wohl dabei: Siemens-Chef Joe Kaeser und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU)

Sie geben Görlitz eine Perspektive und fühlen sich sichtlich wohl dabei: Siemens-Chef Joe Kaeser und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU)

Foto: REUTERS

Als Siemens im Zuge der Sanierung seiner Kraftwerks- und Antriebssparte Ende 2017 ankündigte, auch den Standort Görlitz mit mindestens 800 Mitarbeitern zu schließen, waren die Proteste enorm. Nicht nur vor Ort, sondern auch von den eigenen Aktionären musste sich Konzernchef Joe Kaeser geharnischte Kritik anhören.

Der Widerstand und das Unverständnis Zehntausender in einer ohnehin schon gebeutelten Region, wo die AfD erfolgreich die Stimmen der Enttäuschten aufsammelt und ein Direktmandat bei der letzten Bundestagswahl errang, beschäftigte sogar das Kanzleramt und zeigte Wirkung: Siemens knickte ein und versprach für Görlitz und die dortigen Jobs eine neue Perspektive zu erarbeiten - ein vergleichsweise einmaliger Vorgang.

Auch wenn in Görlitz Stellen wegfielen, jetzt ist klar, wie die Perspektive aussehen soll: Siemens und Sachsens Landesregierung, die sich direkt in der Konzernzentrale für den Erhalt des Standortes stark gemacht hatte, wollen mit einem Wasserstoff-Technologiezentrum den Strukturwandel in der Lausitz beschleunigen und unterstützen. Dafür soll direkt auf dem Werksgelände in Görlitz ein "Innovations-Campus" entstehen, auf dem Hightech-Firmen, Start-ups und Forschungsinstitute ansiedeln sollen.

Zuerst wollen Siemens und die Fraunhofer-Gesellschaft ein Labor für Wasserstoff-Forschung aufbauen, teilten die Beteiligten am Montag mit. Auf dem Campus sollen Anlagen zur Herstellung von Wasserstoff, erforscht, getestet und Menschen für die Bedienung dieser Geräte ausgebildet werden. Siemens gilt als weltweit führender Hersteller für Anlagen zur elektrolytischen Herstellung von Wasserstoff.

Wasserstoff entsteht durch Elektrolyse: Dabei wird Wasser unter Strom gesetzt und so in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt. Das Verfahren ist vergleichsweise energieaufwändig, zeichnet sich aber durch einen hohen Wirkungsgrad aus. Damit die Ökobilanz der Wasserstoffherstellung stimmt, könnte zum Beispiel überflüssiger Windstrom in Deutschland verwendet werden.

Im Video: Warum unser Tester diesen Wasserstoff-Hyundai am liebsten behalten hätte

manager-magazin.de

Wasserstoff lässt sich vielfältig verwenden. So könnte das Gas etwa in der Stahlindustrie Brennstoff der Zukunft werden. Thyssenkrupp hatte unlängst angekündigt, seine Stahlerzeugung CO2-frei machen zu wollen, indem Wasserstoff zur Verbrennung die Kokskohle ersetzen soll . Dafür will der Konzern rund 10 Milliarden Euro bis zum Jahr 2050 investieren. Wasserstoff ist brennbar und reagiert mit dem im Eisenerz ebenfalls enthaltenen Sauerstoff. Als Verbrennungsprodukt entsteht bei der Stahlherstellung so kein CO2 sondern Wasser (H2O).

Fraunhofer-Präsident Reimund Neugebauer sieht in der Nutzung von Wasserstoff eine neue Industrie und damit verbunden nun auch gute Chancen für den Freistaat Sachsen. Das Chemnitzer Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) werde die Koordination und den Aufbau des Zentrums in Görlitz übernehmen, berichtet die "Freie Presse" .

Insgesamt wollen Siemens und die Forschungseinrichtung 30 Millionen Euro investieren. In den nächsten fünf Jahren sollen damit etwa 100 Arbeitsplätze entstehen, was den Stellenabbau zwar nicht kompensiert, aber besser ist als die Schließung eines ganzen Standortes. Siemens-Chef Joe Kaeser, Ministerpräsident Michael Kretschmer und ein Vertreter der Fraunhofer-Gesellschaft unterzeichneten am Montag eine entsprechende Vereinbarung.

Kanzlerin vor Ort, Kaesers Wahlkampfhilfe

Die strukturschwache Region nahe der polnischen Grenze leidet als eines der größten Braunkohle-Abbaugebiete Deutschlands auch unter dem Ausstieg aus der Kohle-Verstromung. Es sei viel über den Strukturwandel gesprochen worden, jetzt sei es an der Zeit, zu handeln: "Wir haben keinen Planeten B." Der "grüne Wasserstoff" biete große Möglichkeiten, sagte Kaeser und verteilte zugleich einen Seitenhieb an die AfD: Die Investition sei ein Signal an diejenigen, "die Ängste und Sorgen der Menschen für ihre Zielen nutzen". Siemens dagegen schaffe "wirkliche Alternativen" für Görlitz und Ostsachsen.

Das dürfte Angela Merkel mit Genugtuung vernommen haben. Nun könnte man meinen, die Unterzeichnung einer Absichtserklärung für 100 in Aussicht gestellte neue Jobs in fünf Jahren sind kein Termin, dem eine Kanzlerin zwingend beiwohnen müsste. Merkel sah das anders, erschien am Montag höchstpersönlich in Görlitz - um eben auch zu dokumentieren: Die CDU tut etwas für euch, für die Region.

Schließlich wählt Sachsen am 1. September einen neuen Landtag. Die Angst der etablierten Parteien vor einem Sieg der AfD ist groß. Und beileibe nicht alle CDU-Direktkandidaten lehnen eine mögliche Koalition mit der AfD  nach der Landtagswahl ab. Aber mit einem Siemens-Chef im Rücken lässt sich leichter Wahlkampf machen - auch und gerade in Sachsen, wo Merkel lange Zeit angefeindet war.

mit dpa